4. Sinfonie
16067
page-template,page-template-full_width,page-template-full_width-php,page,page-id-16067,page-child,parent-pageid-15565,bridge-core-3.0.1,qode-page-transition-enabled,ajax_fade,page_not_loaded,,qode-title-hidden,qode-theme-ver-28.5,qode-theme-bridge,wpb-js-composer js-comp-ver-6.7.0,vc_responsive
HOME WERKAUSWAHL  SINFONISCHE MUSIK  /  4. Sinfonie

Sinfonie Nr. 4 „Contra bellum“

Karl Dietrich schrieb 1983 über seine 4. Sinfonie „contra bellum“ Folgendes:

 

Der lateinische Titel – contra bellum – bedeutet für mich gleichsam intensives Bemühen um die Erhaltung des Friedens. Da dieses mein zutiefst innerer Wunsch und ebenso sehr moralische Verpflichtung ist, gab ich meiner 4. Sinfonie die genannte Bezeichnung. Zur musikalischen Realisierung meines Anliegens dienten mir – gleichsam als Keimzelle und cantus firmus – die ersten vier Takte von Luthers Übersetzung des lateinischen „Da pacem Domine“ (Verleih uns Frieden gnädiglich) durch Balthasar Resinarius.

 

Ausgehend von der Kompositionstechnik, der Form und Inhalt ist mir bewusst, was es heißt, heute Sinfonien zu schreiben. Es ist kein selbstverständliches Tun wie zur Zeit der Klassik. Form und Inhalt haben sich so gewandelt, dass in jedem neuen Werk die Frage nach dem Verhältnis zur Wirklichkeit und der kritischen Aufarbeitung des musikalischen Erbes akut wird. Die Wirklichkeit äußert sich zunächst in dem Versuch, die Wahrnehmung aus den Ereignissen unserer Zeit im Ergebnis meines eigenen Verhaltens zur Umwelt in musikalischen Prozessen zu gestalten. In diesem Zusammenhang ist das aktuelle Thema meiner 4. Sinfonie zu verstehen, die mit zeitgenössischen Mitteln arbeitet, ohne auf bestimmte oder abstrakte Kompositionsrichtungen Bezug zu nehmen. Melodie, Harmonie und Rhythmus greifen – bedingt durch das Zitat des cantus firmus – auf traditionelle Techniken zurück, die aufgelöst, zerfasert und zu Neuem verschmolzen werden, gleichsam als Synthese zwischen Tradition und Gegenwart. In diesem Sinne wende ich mich gegen die verbreitete Auffassung, dass neue Musik nur noch etwas mit dem rein Vernunftmäßigen zu tun hat. Neue Musik kann – es liegt am Komponisten – ganz persönliche Gefühle und Empfindungen ausdrücken.

Der 1. Satz, in dem der cantus firmus in der Vergrößerung erklingt, gibt der Hoffnung nach Frieden Ausdruck. Aleatorische Passagen, als Zeichen hereinbrechender chaotischer Zustände, werden zurückgedrängt, wobei neben dem Zitat die große Sekunde d – e, mit der das Wort Frieden im cantus firmus vertont ist und in ihrer Transposition als „c-b“ (contra bellum) an Bedeutung gewinnt.

 

Der 2. Satz beginnt mit einer erregten Streicherpassage, die drohendes Unheil ankündigt, durch eine ausgedehnte Oboen-Kadenz aber scheinbar beschwichtigt wird. Jenes unheilvolle Wüten dem Friedensgedanken feindlich gegenüber stehender Kräfte, das in einem großen Orchesterostinato gipfelt, verebbt langsam, und nur mühsam (in den sich anschließenden Episoden der Beruhigung tauchen immer wieder Motive auf, die an diese Schrecknisse erinnern) suchen einzelne Instrumente nach der Melodie des cantus firmus, die dem Ansturm der Gewalten zum Opfer fiel.

 

Auch den 3. Satz charakterisiert diese Suche nach dem Friedensgedanken, wobei – im Gegensatz zum zweiten, da Angst und Protest dominierten – meditative Gedanken im Vordergrund stehen.

 

Im letzten Satz verstärkt sich die Auseinandersetzung, das Thema behauptet sich allmählich gegenüber dem heftig auftretenden Widerstand (Reminiszenzen aus dem 2. Satz) und erklingt schließlich im strahlenden Glanz der Blechbläser. Nach einer letzten, nachdenklichen Episode endet die Sinfonie mit einem großen crescendo auf dem Ton „C“ (contra bellum) und einem Paukensolo als Schlusspunkt.

 

Zu dem Werk Sinfonie Nr. 4 „Contra bellum“ schrieb Eberhard Kneipel 1985 folgendes:

 

Der näheren Bestimmung einer analogen Aussage dient der Titel der 4. Sinfonie „Contra bellum“ (Gegen den Krieg). Ihm tritt ein Zitat zur Seite: die Vertonung des „Da pacem, Domine“ in der Lutherischen Übersetzung durch Balthasar Resinarius in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts.

Als cantus firmus durchzieht es original und variiert das ganze Werk. Dabei erlangen der Ganztonschnitt f-g („Frieden“) und, in der Quinttranspositon des Zitats, die Tonfolge c-b als Klangsigel für „Contra bellum“ tonsymbolische Bedeutung. Dunkel lastenden, unheilvollen Klängen und bedrohenden Ausbrüchen steht im 1. Satz die entschlossene Kraft des cantus firmus der Blechbläser entgegen. So vermögen die Soloinstrumente bei der Rückkehr des düsteren Beginns ein Zeichen von Hoffnung einzubringen.

 

Der 2. Satz formiert mit aggressiven Klanggesten, brutalen Tutti-Einsätzen und heulenden Bläserläuten eine Vision des Schreckens, gegen die sich der cantus firmus mit der Kraft des Steicher-Unisonos zu behaupten sucht; er bleibt in den ruhigen Episoden, den Kadenzen der Oboe und den Bläsersoli des Satzschlusses , gegenwärtig – teils verschwommen, mühsam bewahrt, doch nicht verdrängt, denn vernehmlich halten die Flöten am Ende das Ganztonintervall fest! Mit dem innigen Gesang der Flöte (später der Violine) und eindringlichem Streichermelos verstrahlt der 3. Satz eine Atmosphäre von Besinnung und innerer Festigkeit.

 

Das Finale aber wird noch einmal zum Schauplatz dramatischer Verdichtungen. Dem Ansturm der Pauken vermögen die Klarinetten mit dem Zitat nur verhalten zu begegnen. Doch auf die anschwellende, seelenlose Tutti-Bewegung (mit Reminiszenzen des 2 Satzes) antwortet dann der cantus firmus als Zeichen des Widerstandes und des Aufbruchs mit einer großen, dynamisch gespannten Melodielinie der Geigen, mit den Gegenstimmen der Posaunen und schließlich – nach der Wiederkehr des Satzanfanges und inmitten des aleatorischen Getümmels aller übrigen Instrumente – mit der sieghaften Hymne der Blechbläser.

 

Danach vereint sich das Orchester beziehungsvoll auf dem Ton c (contra), und dieses mächtige Crescendo gipfelt im warnenden und zugleich appellierenden Paukensolo des letzten Taktes. Damit konzentriert der Satzschluss noch einmal auf knappstem Raum das ideelle Konzept dieser Sinfonie, mit der Dietrich – Gattungserbe und humanistische Tradition aufarbeitend – „die Wahrnehmungen aus den Ereignissen unserer Zeit“ und das „Ergebnis meines eigenen Verhaltens zur Welt in musikalischen Prozessen“ – also wohl wissend um die Notwendigkeit und Nützlichkeit eigener Aktivität – gestaltet hat: Bedrohung und Zuversicht.

Plattencover KD
CD Cover KD