Zu dem Werk „Dramatische Szenen“ schrieb Eberhard Kneipel 1985 folgendes:
Es will scheinen, als bündele der Titel eines der Werke Karl Dietrichs – „Dramatische Szenen“ – gleichsam mehrere Schaffensintentionen dieses Weimarer Komponisten in sich. Assoziiert der Begriff der Szene Vorgänge, Aktionsräume, Dialogisieren und weitreichender noch, Anschaulichkeit, so lässt sich davon einiges in seiner Musik finden: Die 3. Sinfonie (1978) heißt nicht nur „Auftritt eines Orchesters“, sondern sie praktiziert ihn auch – quasi als Umkehrung von Haydns „Abschiedssinfonie“. Und die Manipulationen zur Veränderung des Instrumentalklanges in den viel gespielten „Variationen über ein Thema von Prokofjew“ für Klavier zu vier Händen (1970) vollführen die Interpreten vor den Augen der gebannten Zuhörer.
Dass das Dialog-Prinzip für das Wechselspiel zwischen Soloinstrument, Orchestergruppen und Tutti für die Konzerte bestimmend ist, bedarf sowieso keiner ausdrücklichen Erwähnung. Eher dann schon die Tatsache, dass auch der Text (Sinfonie mit lyrischem Schlusschor, 1969; Ode „Ad universum“, 1979), Programmatik (Bläserquintett nach Eindrücken einer Ostseereise, 1961; Tänzerische Episoden, 1963) sowie Zitat und Tonsymbol auf bildhafte (oder wenigstens konkretisierende) und fassbare Gehalte und Absichten der Tonsprache verweisen. Schließlich gipfeln Dietrichs szenische Ambitionen in der tatsächlichen Hinwendung zur Bühne: mit der 1984 in Gera uraufgeführten komischen Oper „Die Wette des Serapion“.
Das dramatische Element gesellt sich durch die Art und Weise dazu, mit der die musikalischen Charaktere in Beziehung gebracht sind und agieren: Spannungsvoll und aktionsreich, Konfrontationen und Konflikte einbeziehend und von deren Höhe zur Peripetie drängend, entwickeln sich die Formen von Dietrichs großen Orchesterstücken – als „Spielräume“ thematisch gedachter Gestalten oder gestisch betonter Konfigurationen. Im Zusammentreten der zwei Gestaltungsqualitäten – der des Dramatischen und des Szenischen – ergibt sich wohl auch die besondere Verwandtschaft der beiden hier vorgestellten orchestralen Hauptwerke Dietrichs, und noch das Cellokonzert (1982) zehrt davon. Was die „Dramatischen Szenen“ allgemeiner und sicherlich vieldeutiger ausdrücken, bringt die 4. Sinfonie mittels Zitat und der daran geknüpften Tonsymbolik bewusst auf den prägnanten Punkt der Aussage.
Auch im Habitus ähneln sich die Stücke: Viersätzigkeit mit dem langsamen Satz als Ruhepol an dritter Stelle, indes das Finale – jedes Mal der umfänglichste Abschnitt der Komposition – den Ziel- und Kulminationspunkt der musikalischen Dramaturgie bildet. Tieferschürfend als nur auf der Ebene der ausdrucksmäßigen Qualitäten und Vorgänge der Musik, verschafft man dem Begriff „Szene“ noch eine andere Geltung; er wird auch auf die Spezifik der Materialbehandlung anwendbar: das montageartige In-Beziehung-Setzen von wesentlichen Bauelementen (Ganztonfolgen, symmetrische Akkorde, stabile Metro-Rhythmik) und dessen Erweitern oder Durchbrechen (Chromatik, Cluster, Klangfläche, Aleatorik) gemäß den jeweiligen Gestaltungs-und Ausdrucksabsichten.
Dabei ist festzuhalten, dass sich Karl Dietrich vor allem mit und seit den „Dramatischen Szenen“ stärker auf den phantasievollen Einbezug moderner Klangtechniken orientiert, das individuelle Maß und Gespür dafür aber immer gewahrt hat. Ein weiteres Merkmal der „Dramatischen Szenen“ ist der kleine Flöte, große Flöte und Altflöte einbeziehende Solopart. Derart an Umfang und Farbspektrum erweitert, treten seine verschiedenen Klangcharaktere auch formartikulierend auf, indem die Dreiteiligkeit der meisten Sätze zuerst über Tempi, Satzdichte und die alternierenden Soloinstrumente (und zuletzt über thematisches Material) hergestellt ist.
Szene I exponiert Materialstrukturen, Klangfarben und Ausdruckshaltungen. Dem spielerischen Prolog der Flöte folgen die Zuspitzungen des Mittelteils mit Einsatz des gesamten Orchesters und erregten Repliken vom Piccolo. Für den entspannten Ausgang sorgen Kantilenen der Altflöte im Klanggespinst von Harfe und Vibraphon sowie der Dialog der tiefen Bläser. Dem kapriziösen Solo-Auftritt der Flöte und ihrem anmutigen Wechselspiel mit Harfe, Klavier und Glocken stellt der Mittelteil von Szene II die Unruhe gärender Klangflächen, bohrender Ostinati, jagender Läufe und scharfer Unisono-Schläge entgegen.
Aber unvermittelt greift der Schluss mit schwebender Melodie der kleinen Flöte, weiträumig über zwölftönige Streicherakkorde geführt, auf den freundlichen Anfang zurück. Die Physiognomie der nachdenklich gehaltenen, sich auch deklamierend äußernden Szene III wird vornehmlich durch Farben geprägt: Die Soloinstrumente sowie Bläser, Schlagwerk und das auf den Saiten mit Schlegeln bearbeitete Klavier dominieren, und der „sprechende Ausdruck“ ist mit dem Echo-Dialog zwischen Altflöte und Orchesterflöte betont.
Gespannte Blechbläserakkorde, fortwährender Bewegungsimpuls, schwirrende und oszillierende Klangfelder und wenige kantable Äußerungen sind in der Motorik der vierten Szene aufgehoben und dem aleatorischen Höhepunkt zugeführt. Dieser signalisiert den Umschlag: den Verein von energischen Tutti-Gesten und sinnlichen, transparenten Farbflächen als Ergebnis und Bereicherung der musikalischen Prozesse; zudem Ausdruck notwendig sich ergänzender Seiten menschlicher Lebensäußerung und Schöpferkraft. Ohne Auseinandersetzung, Selbstbehauptung und Entwicklung sind sie nicht zu erringen…